Aufgezeichnet von Nadja Pastega in der SonntagsZeitung vom 3. Dezember 2023
Am Dienstag kommt der neue Pisa-Test heraus. Frühere Ergebnisse zeigten: Fast jeder zweite Schulabgänger in der Schweiz kann kaum lesen. Warum ist das so? Sekundarlehrer Daniel Kachel erzählt von seinem Alltag.
Ich bin seit 23 Jahren Lehrer. Wenn ich gefragt werde, was sich in allen diesen Jahren stark verändert hat, muss ich sagen: Die Beherrschung der Sprache. Machen junge Menschen heute wirklich mehr Rechtschreibfehler als früher, haben sie mehr Mühe mit dem Lesen haben und können sie sich weniger gut ausdrücken? Meine Antwort: leider ja.
Der Sprachgebrauch hat sich in den letzten Jahren geändert, auch zu Hause. Eltern reden weniger mit ihren Kindern. Das fängt schon damit an, dass Vater und Mutter den Kinderwagen stossen und am Handy-Bildschirm kleben, statt mit ihren Kindern zu reden. Wie soll der Nachwuchs so lernen, sich sprachlich auszudrücken?
Wenn die jungen Menschen dann später Konflikte haben, tragen sie das körperlich aus: «Ich muss dich jetzt würgen», «ich kicke in dein Velo». Wie anders sollen sie ihre Gefühlslage ausdrücken? Das haben sie nie gelernt.
Am Dienstag kommt der neue Pisa-Test heraus. Die letzte Erhebung hat gezeigt, dass fast die Hälfte der 15-jährigen Schulabgänger so schlecht lesen können, dass sie für den Alltag nicht genügend gewappnet sind. Sie verstehen wichtige schriftliche Informationen nicht. Das betrifft längst nicht nur Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien, sondern auch «Einheimische». Und es geht nicht nur um Sek-B- und -C-Schüler. Auch in den A-Klassen hapert es zum Teil gewaltig.
Wir versuchen alles, um Migrantenkindern Deutsch beizubringen. Sie bekommen entsprechenden Sprachunterricht. Oft ist es aber so, dass die zugewanderten Eltern zu Hause mit ihren Kindern kein Deutsch sprechen, weil sie den Bezug zu den eigenen Wurzeln vermitteln wollen.
Es gibt Schüler, deren Eltern schon länger in der Schweiz sind, die aber im Unterricht ständig nach einem «Translator!» rufen, einem Übersetzer im Klassenzimmer. Da muss ich dann auch mal sagen: Nein, es gibt jetzt keinen Übersetzer mehr – der Translator ist in deinem Kopf.
Das Problem: Deutschkenntnisse braucht man überall im Alltag, auch in der Schule. Nehmen wir den Mathematikunterricht. Da geht es heute nicht mehr nur um das Lösen von Stöcklirechnungen, es gibt auch Textaufgaben. Da scheitern manche Schülerinnen und Schüler schon daran, dass sie die Aufgabe rein sprachlich nicht verstehen.
Ich möchte nicht verallgemeinern. Es gibt Jugendliche, die es erfreulich gut machen. Aber zum Teil ist es erschreckend. Wir reden hier nicht von Adverbial- und Partizipkonstruktionen. Sondern von Grundsätzen auf Deutsch. Wie etwa Rechtschreibung.
Die Schülerinnen und Schüler schreiben, wie sie denken und reden. Ohne Punkt und Komma. Und meist in Mundart. Gross- und Kleinschreibung? Kann man vergessen. Bei manchen Erwachsenen ist es heute auch nicht besser.
Da spüre ich als Lehrer auch die Folgen der sozialen Medien mit Kurznachrichten über Whatsapp. Man schaut weniger genau hin, was man geschrieben hat. Orthografie? Who cares! Interpunktion? So was von gestern.
Regelmässiges Lesen wäre wichtig, um die Sprachkompetenz zu entwickeln. Aber die Leselust der Jugendlichen ist meist nicht sonderlich gross. Sie ziehen sich lieber eine Serie rein oder konsumieren bequeme Unterhaltung. Wenn sie lesen, dann meist nur Posts und Reposts auf Whatsapp oder anderen Internet-Plattformen, deren sprachliche Reichhaltigkeit zu wünschen übrig lässt. Darum gehe ich regelmässig mit meinen Schülern in Bibliotheken – das ist für sie oft der einzige Zugang zu qualitativ guter Lektüre.
Man muss sich natürlich heute an den Schulen fragen, wofür man die immer knapper werdende Unterrichtszeit einsetzen soll. Ich heisse es nicht gut, wenn man die Rechtschreibung nicht mehr beherrscht. Aber gleichzeitig muss man aufpassen, dass man nicht an den künftigen Anforderungen vorbei unterrichtet. Diktate sind ein gutes Beispiel. Als junger Lehrer habe ich das öfter gemacht, heute noch einmal pro Jahr. Heute gibt es Rechtschreibprogramme und künstlichen Intelligenz, die ganze Texte verfasst. Soll ich da tatsächlich Orthografie pauken?
Stattdessen möchte ich, dass sich die Schülerinnen und Schüler mündlich ausdrücken undeinander zuhören können. Eine Selbstverständlichkeit, könnte man meinen. Aber das ist leider nicht mehr der Fall. Wenn die Jugendlichen miteinander reden, tun sie das oft fragmentarisch: «Gömmer Glatt», «simmer Migros gsi».
Wenn sie so mit mir reden, sage ich jeweils: «Hey, mach einen ganzen Satz.» Auch die Eltern sind hier gefordert. Ich möchte die Mütter und Väter dazu aufrufen, wieder mehr mit ihren Kindern zu reden – statt mit dem Nachwuchs nur noch ständig über das Smartphone zu kommunizieren!